Rezension "Stunde der Wahrheit"

von Ragazzi

Das Mittelalter feiert in der Rockmusik wie im Folk schon seit etlichen Jahren beständig Erfolge. Die Szene ist vielgestaltig, manche Truppen treten auf städtischen Mittelalterfesten auf und beschränken sich auf akustische Instrumente, andere spielen "authentisch", die nächsten wildem mit mittelalterlichen Liedmustem in der alternativen Rockmusik, in Electro oder Metal. Vermutlich ist hier nicht mehr von 'einer' Szene zu sprechen, eher wohl von einer Sammlung verschieden interessierter Musiker, die sich aus allen möglichen Vorstellungen mittelalterlicher Musik ihren Kuchen brechen. Streunt im Sommer über die mittlerweile Massen an Festivals und Stadtfesten - nirgends werdet ihr sie vermissen. Überall springen sie über Feuer, baden in riesigen Holzbottichen, machen Feuer, trinken Met und bieten ihre Musik oder auch selbstgefertigte Kleidung und allerlei Waren feil. Unsere reale Zeit ist sozial und kulturell arm, verbogen unter 9 Stunden Arbeitszeit am Tag und den Liturgien des geregelten Lebens. Da muss eine andere, weit entfernte Inspiration als Vorlage für sinnvolle Lebensgestaltung herhalten. Preußen ist nur für militärische Blaskapellen geeignet (oder für Architektur und Gartenarchitektur - aber das hat keinen Lebensnerv mit Festivalcharakter). Das Mittelalter, finster, brutal, kriegerisch und doch, in Kneipenromantik bäuerlich frei, das Volk übte sich im Aufstand, Theologen und Zünfte erhoben sich, Sprache und Staat bildeten den Ursprung einer wachsenden Größe - in allen europäischen (werdenden) Nationen und Kulturen. Die Musik und ihre Texte sind romantisch und revolutionär, frech und wild, leidenschaftlich und böse, zänkisch und angriffslustig. Die Texte vieler Mittelalter-Bands zeigen es, wie viele romantische Vorstellungen man in eigenen Liedern ausdrücken kann. Cumulo Nimbus sind nicht einfach eine Kapelle unter vielen. Ihr Album "Stunde der Wahrheit" ist ein verflixt ausgeklügeltes, unglaublich facettenreiches und virtuoses Stück Musik, dessen 13 Songs sich genau auf eine Stunde verteilen. Pat Houdt (dr), Carolynn (fl, voc), Mathis Mandjolin (voc, g, mand, b, Krummhorn), Lady Doro (vi) und Erik der Müllermeister (g, voc, b, Laute) [neuestes Mitglied im Bunde ist Käpt'n Köhler (b)] spielen Renaissance-Metal. In instrumentalen Passagen kratzen die beiden Gitarristen harte Metalriffs, von Bass und Schlagzeug mauerdick und spielmannvirtuos unterstützt, während Carolynn mit ihrer Blockflöte darüber beherzt hinwegtanzt. Aus aller neuzeitlichen Alltagsdröge hat die Band sich die unglaubliche Mühe gemacht und mit großer Inspiration und Spiellust dieses runde, bezaubernde Werk eingespielt, das vom ersten Ton bis zum letzen ebenso faszinierend ist wie die Gestaltung des Booklets. Melancholisches wechselt sich mit forsch-harten und humorigen Stücken ab, die Einspielung ist virtuos gelungen. Die Songs sind nicht nur eine lockere, konzentrierte Idee, sondern gefüllt mit etlichen Facetten und kantenscharfen Motiven; da bricht in das harte "Bruder" eine folkloristische Akustiknote ein, die von der elektrischen Band nach und nach wieder aufgefangen wird und zu neuer Härte findet. Soli an Geige, Blockflöte und den Gitarren verfeinern die Songs ebenso wie abwechslungsreich arrangierte Instrumentalparts. In "Bruder" gibt es eine leichte stilistische Verneigung vor den Rammsteinen. Zumeist jedoch ist der Renaissance-Metal von Cumulo Nimbus nicht mit weiteren Bands vergleichbar, noch lehnt die Band sich einer Vorgabe an. Sie macht ihr "eigenes Ding" und das mit einer beeindruckenden Fülle an tollen Ideen. Die Texte sind im Booklet abgedruckt. Düsteres, Witziges, Eulenspielereien, Dramatisches und Liebesseufzer haben Leben und sind gut ausgedrückt. Der Gesang, zumeist weiblich/männlich abgewechselt, ist sehr gut geworden - ganz besonders hervorragend ist der ausgeklügelte folkloristische Chorgesang im Refrain von "Tyrann", wie überhaupt der akzentuierte Gesang, Stimmführung und Gesangslinie stets ansprechend und mitreißend sind. Einen schönsten Song habe ich nicht ausgemacht, einige jedoch. "Tyrann", "Feuerteufel", "Bruder", das zarte "Moor", "In Muro", das instrumentale "Englischer Tanz" und das balladeske "Vogelfrey". Was bleibt zu sagen - "Stunde der Wahrheit" ist für mich persönlich, der ich stilistisch nicht unbedingt zur Mittelaltermusik tendiere, ein Ausnahmealbum, ähnlich ideenreich und virtuos wie einst Ougenweide in den 70em. Tipp!

VM